Lobe

J.C. Lobe: Konsonanzen und Dissonanzen; Leipzig 1869

Sein Lied war deutsch und deutsch sein Leid,
Sein Leben Kampf und Noth und Neid.
Das Leid flieht diesen Friedensort,
Der Kampf ist aus – sein Lied tönt fort.

Ich stelle diese, einem Freundesherzen entquollenen poetisch-gefühlvollen Worte gern an die Spitze des nachfolgenden Gesprächs, obgleich Lortzing selbst über die Schlußbehauptung gelächelt haben würde. Daß seine Musik in die Zukunft hineintönen werde, hat er sicherlich niemals gehofft. Er war ein Mann der gegenwart. Er fand bei einem großen Theile des Theaterpublicums das stark gewordene Verlangen vor, nach den schrecklichen und grauenhaften Schicksalen, die mit überkünstlichen Toncombinationen und instrumentalem Donnergeräusch begleitet auf der Bühne vorübergeführt werden, und Ohr und Seele mehr peinigen als erfreuen, sich einmal wieder an gemüthlich heiteren Begebenheiten und Tönen zu erquicken. Dieses Bedürfniß verstand er in einigen seiner anspruchslosen Erzeugnisse auf ziemlich geschickte Weise zu befriedigen. Eine nachhaltige Wirkung liegt freilich nicht darin. Sie werden bald den Weg gehen, den die Tonwerke viel größerer Meister vor ihm haben gehen müssen. Ist es doch überhaupt sehr problematisch, ob außer dem Volkslied irgend ein Musikalisches Werk ewig leben wird. Was die Erfahrung uns bis jetzt darüber gesagt, gibt wenig Hoffnung dazu.

Wie dem auch sei, war Lortzing kein großer Musiker, so war er doch ein artiges Talent, ein interessanter, herzensguter Mensch, und besaß ein reichere Bildung, als Viele in ihm geahnt und gesucht haben mögen. Letztere besaß er durch eigenes Studium, und sie ist um so mehr an ihm zu schätzen, als er sich dieselbe unter sehr ungünstigen Umständen und Beschränkungen entwerben mußte. Aber er prahlte nicht mit seinem Wissen, und ließ sich selten in tiefer eingehende Gespräche über Kunst, Literatur und dergleichen ein. Er fühlte hierzu im Allgemeinen wohl keine besondere Neigung, und bei seinem vorzugsweise in Gesellschaft aufwachenden jovialen Sinn zog er ein heiteres, leichtes, selbst leichtfertiges Gespräch vor. Das Ernste verarbeitete er still in sich daheim zu gesammelter Stunde. Als die Sonne des Ruhms ihm aufging, fast gleichzeitig aber auch Neid und Noth sich einfanden, wurde er ernster. Des Daseins freundliche Blüthen welkten ihm, und weniger reichlich als in früheren besseren Zeiten sprudelte die heitere Quelle, bis sie in der letzten Periode seines Lebens fast ganz versiegte. Der ihm gewohnt gewordenen Ausdrucksweise blieb er jedoch selbst in seinen trübsten Stimmungen treu.

Der Zufall führte mich an einem schönen Sommerabende in den Garten eines Dorfes nahe bei Leipzig, wo Lortzing allein an einem Tische saß. Wie gewöhnlich, wenn nur zwei Personen mit einander Verkehren, bewegte sich auch unser Gespräch bald in ernsteren Bahnen, bis der Verlauf desselben die Rede auf seine dermalige Beschäftigung brachte.

“Ich habe mich jetzt an eine ernsthafte, romantische Oper gemacht”, sagte er. “Das Märchen von der schönen Undine hatte stets etwas Anziehendes für mich. Ob ich das Zeug dazu habe, weiß ich nicht. Versucht wird’s! probemus! Was man nicht kann, muß man zu lernen suchen.”

Da haben wir wol ein durchcomponirtes Werk zu erwarten? fragte ich.

Behüte mich der Himmel davor!” rief er komisch – tragisch aus, so daß ich mich eines Lächelns nicht enthalten konnte, und zu der weitern Frage veranlaßt sah, ob er denn so großen Widerwillen gegen das Recitativ hege.

“Ja und nein,” erwiderte er. “Obligates Recitativ? Allen Respekt! Na, man wird doch wohl herausfühlen, was Gluck, Mozart, Cherubini und Andere hierin geleistet? Und nicht zu vergessen das große Recitativ in Marschner’s Vampyr, über das hinaus ich kein größeres, gewaltiger wirkendes kenne. Ja, so lasz ich mir’s gefallen! Allein dazu bedarf es des Durchcomponirens einer Oper nicht, solche Prachtpflanzen kann auch ineiner Dialog-Oper anbringen, wem das Genie dazu verliehen worden. Ich habe es nicht, und halte mich darum gern an das leichtere Gute, was Figura mir als erreichbar und allen Menschen zugänglich zeigt. Was schwafeln uns die Philosophen und Aesthetiker nicht alles vor! Besieht man jedoch ihren gelehrten Krimskrams bei Lichte, so ist nichts daran und dahinter, was sich auf Dinge zurückführen ließe, wie sie uns Figura zeigt.”

Sie lassen also nur gelten, was Figura zeigt? fragte ich.

“Getroffen!” fuhr Lortzing fort. “Es lebe die Empirie! Dank dem Vagabundenleben, das ich den größten Theil meiner Jugend hindurch habe führen müssen, den Vortheil bringt es, daß man beobachten und Rücksicht nehmen lernt auf das was Figura zeigt.”

Und in diesem Falle, hob ich an, zeigte sie Ihnen ….

“Sie zeigte mir,” fiel Lortzing ein, “daß der größte Theil der Theatermenschheit schon nach dem ersten Akte einer durchcomponirten Oper von einem unbehaglichen Gefühl überschlichen wird. Und sagen Sie mir einmal aufrichtig – im Vertrauen – er sah sich dabei komisch furchtsam um – wir sind allein, es lauert kein ästhetischer Polizeimann auf unsere Worte, – sagen sie mir offen, bereitet Ihnen das gewöhnliche Recitativ einen besondern Genuß? He?”

Lortzing richtete bei dieser Frage seinen jovialen Blick gespannt auf mich, als wolle er in meinen Zügen lesen, ob ich mir in Gedanken eine offenherzige oder diplomatisch-politische Antwort zurecht mache. Da es mir aber um seine Ansicht zu thun war, so ließ ich als Antwort blos jenes unbestimmte “Hm!” hören, wodurch man den Anderen gewöhnlich zur Fortspinnung seines Gedankenentfadens reizt.

“Was ist das Recitativ?” fuhr er auch sogleich fort. “Musik? Nun ja, eine ausgekleidete, unter welcher ein Skelett erscheint, dem es an Fleisch und Blut fehlt. Eine notirte Deklamation! Alle jene Dinge, welche der Musik ihren Reiz verleihen, bestimmter Takt, Tonart, Rhythmus, Melodie, wohlklingende Instrumentation, fehlen dem gewöhnlichen Recitativ. Deklamatorische Phrasen, dazwischen Risse mit den Bässen, oder mit dem Streichquartett, dazu das unvermeidliche, stereotype Tremulo, so geht es fort. Empfinden Sie wirklich einen musikalischen Reiz dabei? Gewiß nicht!”

Viele vertheidigen es aber doch mit Wärme, und müssen Gründe dazu haben, warf ich ein.

“Nicht aus wirklichem Bedürfniß eines warmen Musikgemüths thun sie es,” erwiderte er lebhaft, “sondern aus einem falschen Zweckmäßigkeitsgedanken. Es sei natürlicher, sagen sie entweder gar nicht oder immer zu singen”.

Und das werden Sie doch wol zugeben müssen? bemerkte ich, um seine Meinung weiter zu hören.

“Ja, das fehlte mir noch!” polterte Lortzing heraus. “Also wenn nicht mehr in der Oper gesprochen würde, wäre sie natürlicher? Schöne Logik das! Nichts, kein Jota ist natürlich weder in der Dialog- noch in der Recitativ-Oper, noch sonst an irgend einem Kunstwerk. Ist denn ein Gemälde etwa natürlich in jenem Sinn? Ist das ein natürlicher Mensch, der aus einer flachen Leinwand uns aufschaut?”

Ich gestehe, warf ich ein, daß mir Ihr Gedanke nicht ganz klar ist.

“Na ein anderes Beispiel denn,” fuhr er fort. “Im Don Juan wird uns eine Statue gezeigt, die auf einem Pferdesitzend plötzlich eine an sie gerichtete Einladung annimmt, und später bei Don Juan wirklich als Gast erscheint. Sagen Sie mir doch, was an dieser Scene natürliches ist? Wenn uns Einer die Geschichte als wirklich geschehen erzählen wollte, würden wir ihn für verrückt halten.

“Nehmen wir indessen einmal an, diese Begebenheit sei möglich, habe sich irgendwo zugetragen. Nun aber auch wirklich auf der Leipziger Bühne mit Koulissen, einem Orchester davor, einem zuschauenden Publicum in Parterre, Logen und auf Gallerien, einem an der Decke schwebenden Kronleuchter u.s.w.? Don Juan und der Geist hätten gesungen, Stegmeyer dazu unten mit einem Stäbchen im Takt oder gegen den Takt in der Luft umhervagirt, vierzig Musiker hätten zu diesem Gesange gegeigt, geblasen, Pfund mit der Pauke dazu gedonnert? Ist da nicht auch in der Nachahmung Alles, von A bis Z Unnatur? Und doch genirt sie keinen einzigen von den Zuschauern keinem einzigen fällt es ein, daran zu denken, das Alles was ihm da vorgemacht wird, mit dem Begriff der Natürlichkeit betrachtet, der reinste Unsinn ist.”

Und was folgern Sie daraus? fragte ich.

“Zum Geier, daß die Natürlichkeit in der Kunst eine andere ist, als die in der Wirklichkeit; daß wenn die Kunst uns überhaupt etwas sein soll, wir ihr von Haus aus eine Menge Unnatürlichkeiten zugestehen müssen, und eben darin mit der Reiz der Kunst liegt, daß sie mit ganz heterogenen Mitteln einen Täuschung hervorbringt, die uns wie Natur erscheint.”

Und daraus, bemerkte ich, folgern Sie nun weiter, daß die Unnatürlichkeit in der Oper bei dem Wechsel von Gesang und Dialog nicht größer sei, als bei durchgängigem Recitativ?

“Unnatürlich als erstere, behauptete ich, ist die letzetere,” versetzte Lortzing.

Unnatürlicher?!

“Ja, in Bezug nämlich auf unsere, auf die Menschennatur!”

Wie meinen Sie das?

“Die Kunst ist doch nur da, um in ein Verhältniß mit dem Menschen zu treten. Wir haben eine Anzahl Eigenschaften, auf welche die Kunst so berechnet sein muß, daß sie uns die ganze Zeit über, wo wir ihr nahe gerückt sind, angenehm erregt. Kommen in der Oper Momente vor, die uns gleichgiltig lassen, oder gar Mißstimmung, Langeweile, Ueberdruß bringen, so sind das die wahren unnatürlichen Momente, und solche verursachtam öftersen, und ich behaupte bei der durchcomponirten Oper unausbleiblich das viele Recitativ. Was hilft es, daß der Kopf es natürlicher nennt, wenn das Herz dabei gähnt?”

Ja, lieber Lortzing, wendete ich ein, Sie sagen immer uns. Meinen Sie damit die ganze Theatermenschheit, stellen die dann nicht auch eine falsche Idee auf? Wie ich schon bemerkte, gibt es ja Manche, denen der Wechsel zwischen Dialog und Musik eben deshalb unnatürlich erscheint, weil sie unangenehm davon berührt, und also im Genuß gestört werden.

“Das eben leugne ich,” entgegnete er. “Ich behaupte, alle Vertheidiger der Recitativ-Oper theilen im Innersten meine Empfindungen, kein Einziger empfindet auf die Dauer einen wirklichen musikalischen Genuß dabei. Es ist, wie ich schon gesagt, die Idee des Zweckmäßigen, von der manche Aesthetiker ihren Verstand bestechen lassen, innerlich gähnen sie zuweilen wie jeder andere Christenmensch, wenn er zugleich ein Musikmensch ist. Jene guten Leute nehmen diese Art Musik als etwas Gewohntes und Nothwendiges hin, nicht als etwas Angenehmes.”

Und könnte das nicht eine Täuschung von Ihnen sein? warf ich ein. Bedenken Sie, wie oft man die Äuszerung hört: “Ich begreife nicht wie der Mensch an so etwas Vergnügen finden kann!” – Oder: “Das hätte ich nie und nimmer gethan!” – Das zeigt doch auch Figura, wie Sie mir wohl zugestehen werden?

Lortzing legte die Hand an’s Kinn und sah einige Augenblicke sinnend vor sich hin, als suche er über diesen Einwurf hinwegzukommen. Dann griff er rasch nach dem Töpfchen, that einen herzhaften Zug und rief: “Ei was zumPopanz strenge ich mir denn mit Euch die Lunge an wegen meiner Meinung. Was scheer ich mich drum, ob Ihr für oder gegen die Sache seid? Die Leute gehen in Recitativ- und gehen in Dialog-Opern, und kümmern sich den Teufel um unser Gespräch und um alle Schreiberei für oder wider. Könnte ich nur eine Oper wie der Don Juan machen, d.h. nämlich die Gesangstücke, die Recitative….halt! rief er plötzlich triumphirenden Blicks, da fällt mir was ein. Nehmt doch einmal einen von den Recitativ-Vertheidigern her, und spielt ihm von einer durchcomponirten Oper nur die Recitative vor! Oder führt eine neue Art Oper ein, die einzig und allein in Recitativen geschrieben ist. Natürlicher ist sie, denn sie kommt dem gewöhnlichen Menschengespräch allerdings näher als eine Arie, ein Duett, ein Ensemble, dieweil es nichts Unnatürlicheres geben kann, als daß zwei, drei, vier und mehr Menschen sich zu gleicher Zeit hinstellen und singen!

“Und noch ein Pröbchen, um zu sehen, was Figura zeigt! Schreibt ein Heft von sechs Recitativen mit Begleitung des Pianoforte, und dann sucht Euch den Verleger, der es druckt und das Publicum, das es kauft. He, Männeken? Bibamus! Es lebe die Dialog-Oper!

“Ja, und sehen Sie,” fuhr Lortzing ins einem gutmüthigen Eifer fort, “was nützt das schönste Recitativ? . . . Die Deutschen können es ja nicht singen. Falsches Pathos hören Sie fast von Jedem. Woher kommt das? Weil sie übersehen, daß sie bloßen musikalischen Dialog zu singen haben; sie können oder wollen den Sänger nicht vergessen.Den Klang ihrer stimme zu zeigen, bleibt ihnen stets Hauptsache, der sie die Wahrheit des Ausdrucks unbedenklich opfern, selbst wenn sie von dem Irrthümlichen ihrer Manier noch so sehr überzeugt sind. Man erlebt das jeden Tag. Da handelt sich’s z. B. um heftige, leidenschaftliche Aufregung, wo der Mensch in rascher Folge seine Worte herauspoltert. Was geschieht aber? Kommt ein bequemer Ton mit günstigem Vokal für die respektive Person, so wiegt sie sich eine Viertelstunde selbstgefällig darauf, als wäre sie in dem ruhigsten gemüthlichsten Seelenzustande. Mir ist immer bei solchen Gelegenheiten als hörte ich den Sänger denken: “Paszt mal auf, Leute, was das für ein prächtiger und wohllautender Ton ist, den ich da in der Kehle habe und festhalte. Habt ihr so was schon in euerm Leben gehört?” Und nun vollends das Recitativ parlando in der komischen Oper! Au, au! Es wird mir da jedes Mal zu Muthe, als ob der Sänger einen Harnisch oder ein Panzerhemd anhätte!”

Ich hatte einiges gegen sein Zaarenlied auf dem Herzen, und lenkte das Gespräch darauf.

“Damit ist es mir sonderbar ergangen,” bemerkte er. “In der Probe zu Zaar und Zimmerman schüttelte mancher der Herren im Orchester bedenklich den Kopf über dieses Lied, und endlich rieth mir Stegmeyer geradezu es wegzulassen, weil es – nichts machen werde. Ich stutzte. Die Leute meinen’s gut mit dir, dachte ich, und sind doch Sachverständige. Schon wollte ich da Ding weglassen. Doch besann ich mich anders, und sagte: wir wollen’s doch mal wenigstens in der ersten Vorstellung damit probiren. Was thut’s denn, wenn’s durchfällt. Man kann’s in diesem Falle später immer noch weglassen.”

Und gerade dieses Lied gefiel am meisten, bemerkte ich.

“Ja es schlug durch, wie man zu sagen pflegt,” versetzte Lortzing, “und ist wohl in 20.000 Exemplaren durch die Welt geflattert.”

Das will freilich etwas sagen, äuszerte ich. Indessen gestehe ich Ihnen offen, daß ich just gegen dieses Lied vom höheren dramatischen Standpunkte aus einen bedeutenden Einwand zu machen habe.

“Man ‘raus damit,” sagte Lortzing.

Ihr Lied ist hübsch, aber – wie steht es mit der Wahrheit? Halten Sie für möglich, daß ein Peter der Große so sentimental zu denken und zu empfinden vermocht hätte, wie Text und Musik denken und fühlen?

“Vielleicht nicht,” erwiderte er, “obwohl das so ‘ne Sache ist. Aber bon Dieu, wenn wir alle Dinge in der Oper auf die genaue Wage der dramatischen Wahrheit legen wollten! Verstöße dagegen haben ganz andere Kerle als ich gemacht.”

Mag sein, wandte ich ein, nur rechtfertigen die Fehler Anderer nicht die unsern, und falsch bleibt falsch, gleichviel von wem es herrührt.

“Alle Hagel, was hätte ich thun sollen? Das Lied wurde von Publicum besonders beifällig aufgenommen. Für wen schreibe ich denn aber, wenn nicht für das Publicum? – Und ist denn das Lied in der That so unwahr?”

In Bezug auf die Gedanken und Gefühle Peter’s – –

“Ei,” fiel er ein, – “kennen wir denn irgend einen Menschen so genau, um behaupten zu dürfen, diesen Gedanken und diese Empfindung kann er absolut in keinem Momente seines Lebens gehabt haben? Und zumal, wenn es sich um öffentliche Charaktere, Staatsmänner, Herrscher, Kaiser, Könige handelt! Was erfahren wir von ihnen?! Ihre politischen Thaten, die von dem Amt, nicht von dem Herzen dirigirt werden, dazu einige Anekdoten, flüchtige Züge, oft erfunden, oft verdreht, von Schmeichlern oder Feinden!

“Der Mensch soll noch geboren werden, der niemals eine weiche, wehmüthige stunde hätte. Selbst der verstockteste Bösewicht fühlt zuweilen sanfte Regungen. Warum soll ein Fürst wie Peter der Große in dessen seele zwar das Gemeine und Rohe, daneben aber auch das große und Erhabene wohnte, nicht einmal beim Rückblick in die goldene Jugendzeit durch den Contrast mit den laufenden Herrschersorgen, weich und wehmüthig gestimmt worden sein?

“Potztausend! Ein Zaar von Rußland, der um des Besten seines Volkes willen sich eine Zeitlang seiner hohen Würde begibt, und in Fremdem Lande als gemeiner Matrose lebt und arbeitet, wäre es nicht geschichtlich beglaubigt, man würde es für eine der gröblichsten Unwahrscheinlichkeiten erklären. – Aber da soll der Bösewicht nur slechte Gesinnungen und Gefühle, der Gute nur edle Gedanken und Empfindungen haben. So ist es nicht in der Natur. Jener kann auch einmal wie dieser, dieser auch einmal wie jener denken und fühlen. Jagt nur eure allgemeinen Ideen zum Teufel und dringt in’s wirkliche Leben ein, wie Shakespeare Goethe gethan, da werden die schroffen Kategorienmenschen von der Bühne verschwinden und wirkliche darauf erscheinen.”

Wir kamen auf Operntexte zu sprechen; ich fragte ihn, warum er vorhandene Stücke zu seinen Opern umgearbeitet, und nicht eigene Erfindungen gebracht?

“Ich hab’s im Anfang mit einigen kleinen Stücken versucht,” sagte er; “aber, alle Wetter, dazu gehört mehr Talent als ich besitze und mehr Studium und Uebung als ich zu verwenden hatte! Zu der Erkenntniß gelangte ich bald, daß wir viel mehr Genißbares in der Kunstwelt vorgeführt bekämen, wenn jedes Talent innerhalb der ihm von Natur aus gezogenen Schranken seine Kräfte auszubilden bestrebte, ohne darüber hinaus nach Früchten zu langen, die ihm unerreichbar bleiben. Deshalb warf ich mein Auge gern auf verschollene Stücke, und legte sie mir zu einem Operntext zurecht.”

Ich fragte, ob es nicht eben so schwer oder vielleicht noch schwerer sei, aus einem vorhandenen Stücke eine gute Oper zu machen als einen neue zu erfinden?

“Quod non,” versetzte Lortzing. “Zwar sind mir die Dinger auch herzlich sauer geworden, aber es kam zuletzt doch etwas Erträgliches zu Stande. Man muß es nur richtig angreifen.”

Ja, darin liegt’s freilich, bemerkte ich; aber eben dieses richtige Angreifen! Ich möchte wohl wissen, wie Sie dabei zu Werke gegangen.

“Das ist bald gesagt,” bemerkte er; “doch muß ich mit etwas Arroganz beginnen. Der Schauspieler hat einen Vortheil, der den allermeisten dramatischen Dichter abgeht, die Bühnenkenntniß. Wenn man den Leuten zwanzig Jahre hindurch fast Tag für Tag von der Bühne herab seine Flausen vorgemacht hat, so lernt man ihnnen nach und nach ab, was auf sie wirkt und nicht wirkt. Wie prächtig liest sich manche Tirade, mancher Witz im Buche, und wie ohne allen Effekt verpuffen sie auf der Bühne. Umgekehrt sieht manches gedruckt nach nichts aus, und schlägt, lebendig dargestellt, zündend in die Seelen. Da lernt man endlich erkennen, was die Stellung der Reden und Scenen zu bedeuten hat. Darum sollte eigentlich jeder dramatische Dichter eine zeitlang Schauspieler sein. Goethe und Schiller haben geschauspielt; schlecht, aber es hat ihnen doch genützt, daß sie selber auf der Scene gewesen.

“Mit meiner Bühnenkenntniß ausgerüstet, durfte ich mich wohl an die Bearbeitung guter Stücke wagen. Und doch – wie lange habe ich nach einem passenden Sujet suchen müssen. Glaubte ich endlich ein solches gefunden zu haben, so fragte ich mich vor Allem, ob es musikalische Situationen enthalte, Scenen, durch welche Gefühle angeregt werden. Die merkte ich mir zuerst an. Hier Gelegenheit zu einem Liede, dort zu einer Arie, da zu einem Duett, Ensemble, Chor u.s.w. Fand ich das in dem Stücke, so war ein Stein vom Herzen. Nun begann ich eine andere Arbeit, eine kritische, so zu sagen. Ich fragte: welche sind die wirkungsreichsten Scenen darin? Welche sind schwächer oder gar verfehlt? Bei den schwächern galt es dann sie zu verbessern; die verfehlten beseitigte ich gänzlich. So gewann mein Plan nach und nach die Gestalt, die ich für die Oper brauchte, und damit waren die Hauptgebirge überstiegen. Der Dialog war leicht geändert, und die Verse …. na, du meine Güte, welcher Mensch flickt denn heutzutage nicht seinen Vers zusammen; und zumal Opernverse! Zu was sich dabei anstrengen? Muß doch Alles was die Poesie ausmacht, tiefe große Gedanken, blühender Bilder, Reinheit des Reims, Glätte und Fluß der Sprache u.s.w. durch den Componisten zu Asche verbrannt werden, damit der Phönix Musik daraus erstehen könne.”

In welchem dramatischen Gebiete, fragte ich, sollte man hauptsächlich nach für die Opernbearbeitung tauglichen Stücken auf die Jagd gehen?

“Darüber muß eines Jeden individuelle Neigung entscheiden. Trauer-, Schau-, Lustspiel, Posse, alles gut, je nachdem man erschüttern, rühren, belustigen will. Ich wüßte keine andere Allgemeinregel anzugeben, als die, sich nicht an gangbaren klassischen Stücken zu vergreifen. Da kann man nur verballhornen.”

Das ist doch wohl nur bedingungsweise richtig, bemerkte ich, denn Spohr’s “Faust” und Rossini’s “Tell” z.B. sprechen gegen Sie.

“Ich glaube kaum,” gab Lortzing zur Antwort. “Mit dem Erfolge des Faust im Großen ist’s noch zum Aushalten, und dann muß man Spohr’s Ruf und Genie in Anschlag bringen. Tell beherrscht allerdings die Bühnen, aber erstens ist hier die dramatische Verschlechterung durch brillante Guckkastenbilder ersetzt, sodann hat die Oper glänzende Singpartien, und endlich ist die Musik von Rossini. Ja, wer ein Rossini wär’ ! … Verschollenes Mittelgut wie der Bürgermeister von Saardam, der Rehbock u. dergl. Daraus läßt sich etwas machen.”

In der That haben Sie mit Ihrem Bürgermeister von Saardamm einen höchst glücklichen Griff gethan, bemerkte ich.

“Aber warum vorzüglich?” fragte Lortzing. “Das Stück ist freilich nicht übel, und für dieses Genre mag auch meine Musik den unbefangenen Leuten genügen. Allein was das Stück so allgemein auf das Theater gebracht hat, verdanke ich noch einem andern Umstande.”

Und der wäre? fragte ich.

“Rollen, Freundchen,” rief er pathetisch, “Rollen heißt das Zauberwort, welches dem dramatischen Dichter wie dem Componisten die Pforten der Bühnen öffnet. Es gibt Sänger, die wenig Stimme, die jedoch ziemlich gute Schauspieler sind, und wiederum Sänger, die gut singen, aber slecht spielen. Hat man nun ein Stück gefunden, das für Jene gute Spiel-, für Diese hübsche Singrollen absetzt, so ist ein günstiger Erfolg ziemlich sicher. Am besten reussirt man mit solchen Partien, die selbst von geringern Theatersubjecten nicht todt zu machen sind, die sich von selbst spielen, wie im Zaar der Bürgermeister und Peter der Große. Mit der ersteren Rolle ist noch keiner durchgefallen, und ebenso kann als Zaar keiner durchfallen, wenn er nur sein Lied tonvoll herauszuschmachten vermag. Als Spieler darf er steifer Peter sein, das widerspricht der Figur des Zaaren nicht. Sehen Sie, Männeken, das nenne ich Rollen, und darauf verstehen sich hauptsächlich die Italiener, woher sich auch ihr Glück schreibt. Führ Stücke, welche Rollen haben, Gastrollen, interessiren, sich die Sänger jedes Mal. Daran denken die Deutschen am wenigsten, daß es in Opern die Sänger, überhaupt in Theaterstücken die Schauspieler sind, welche als eigentliche Glückmacher der Dichter und Componisten zu betrachten sind.”

Geht aber bei diesem Streben nicht oft der höhere Kunstgehalt der dramatischen Werke verloren? wandte ich ein. Wir haben viele Stücke mit Rollen in Ihrem Sinne, denen wir doch schwerlicheinen bedeutenden Kunstwerth zugestehen können.

“Zugegeben,” rief Lortzing, “dagegen haben wir auch Stücke, deren hohen dramatischen Werth wir anerkennen müssen, und die sich doch nicht auf der Bühne halten, eben weil ihnen die Rollen fehlen. Wenn beides vereinigt wird, dann – ja dann hat der Dichter das höchste Ziel erreicht, wie die Stücke unserer größten Dramatiker Shakespeare, Goethe, Schiller beweisen, worin beide Forderungen erfüllt sind. Derartige Leutchen gehören aber zu den Seltenheiten, und wenn die Directionen keine andern als solche Stücke geben dürften – -“

Sie meinen also, fiel ich ein, daß Diejenigen, welchen die Genialität eines Shakespeare, Goethe, Schiller, Mozart, Beethoven u.s.w. versagt worden, sich mit geringeren Aufgaben begnügen sollten? Dürfen wir aber im Interesse der Kunst nicht vielmehr sagen: wer sich nicht zum Höchsten fähig fühlt, schaffe lieber gar nicht? Was kann dem Kenner an Mittelgut liegen?

Lortzing lächelte etwas seltsam bei dieser Frage, wodurch mir erst ihre Verfänglichkeit ihm gegenüber zum Bewußtsein kam. Ich fuhr daher schnell fort: es bedarf wohl der Versicherung nicht, daß ich Ihre Opern – –

“O Freundchen,” fiel er mir in die Rede, “keine diplomatischen Finessen zwischen uns! Die Bemerkung, daß meine Sachen unter das Mittelgut gehören, kann mich nicht beleidigen, weil sie wahr ist. Aber daß Unsereiner deshalb das Produciren unterlassen sollte, unterschreibe ich nicht. Kenner!” rief er ironisch aus. “O ja, ein schöner Name. Wie viel hoffen Sie denn in Leipzig oder in irgend einer Stadt zusammenzubringen? Wie viele davon zu beständigen Theatergängern zu machen? Und wie viele werden in ihren Urtheilen über die Kunstwerke übereinstimmen? Ist Robert Schumann nicht ein Tongeist von den höchsten Fähigkeiten? Nun, lassen Sie ihn eine Oper schreiben blos für Mendelsohn, Hauptmann, Becker und ähnliche wirkliche Kenner. Wird seine Musik diese Männer vollkommen befriedigen? Werden sie bei allen Piecen in Lob und Tadel übereinstimmen? – Und weiter – wie lange, meinen Sie, würde eine Bühne bestehen, auf der nur Erzeugnisse der höchsten Genies gegeben werden dürfen, und vor der nur Kenner als Zuhörer sitzen sollten? Aus lauter vollkommenen Werken bringen Sie kein Repertoir für ein halbes Jahr zusammen, und von der Einnahme, die ein reines Kennerpublicum brächte, würde der Theaterdirector das Oel für die Lampen nicht beschaffen können! Es wäre charmant, wenn alle Kunstwerke vollkommen und alle Menschen Kenner wären. Unser Herr Gott aber hat es anders beschlossen. Die Menschen auf diesem Planeten sollen verschiedene Fähigkeiten, verschieden Neigungen, verschiedene Bildung, mögligst alle aber auch ihre Kunstfreuden haben. Einige meiner Opern bereiten vielen ehrlichen Seelen angenehme Stunden, damit bin ich zufrieden.”