NZfM 25 – 1846/2

Wiener Briefe, in: NZfM 25 (1846/2), Nr. 13, 12. August 1846, S. 50-52

S. 52: […] Pokorny hat fast sein ganzes Opernpersonale entlassen, und gedenkt sich mit den unbedeutenden Resten durch die Sommerzeit durchzuschlagen, hingegen gebührt ihm das unleugbare Verdienst, uns Wiener mit einer Menge von Opernovitäten bekannt gemacht zu haben, von denen wir ohne ihn wahrscheinlich nicht einen Ton hätten erklingen hören. So haben wir unlängst den Domino noir von Auber gehabt, so hat uns Pokorny heuer mit zwei Werken deutscher Componisten erfreut, nämlich Netzer’s Seltsame Hochzeit, und Lortzing’s Der Waffenschmied, und endlich ist vor einigen Tagen Balfe’s Zigeunerin vom Stapel gelaufen. Gefallen habe diese Opern alle, mit alleiniger Ausnahme der Netzer’schen, welche ein seltsames Gemisch von Langweiligkeit, Lächerlichkeit, und Ungeschicklichkeit in Behandlung der Singstimmen, des Instrumentalen und der dramatischen, oder besser gesagt, musikalisch-conversationellen Formen verräth, und also so ziemlich alle Fehler besitzt, die ein Operncomponist nicht haben sollte. Unter den übrigen ragt Lortzing’s Waffenschmied wie ein Chimborasso hervor, es ist aus jeder Note der Componist des Czaars ersichtlich, und damit ist genug gesagt. An musikalischer Stylseinheit und Formfestigkeit stelle ich sie aber weit höher als erstgenannte Oper, und was mich am meisten von ihr freut, ist, daß Lortzing seine französischen und italienischen Muster verlassen und sich einzig und allein an den ächt deutschen Mozart gehalten hat, der in Lortzing’s Musik so quasi im verjüngten (natürlich nicht so großartigen) Maßstabe wieder erscheint.


Leipziger Musikleben. Lortzing’s Waffenschmied, in: NZfM 25 (1846/2), Nr. 16, 22. August 1846, S. 65-66; 69-70

Die Zeitschrift hat über die hiesige Oper bis jetzt in der Regel nur selten berichtet, aus dem ganz einfachen Grunde, weil in den letzten Jahren hier nur wenig neue Werke zur Aufführung gekommen sind. Wenn wir es aber unterließen, über die Leistungen der einzelnen Individuen, die hier bei Ausführungen von dramatischen Musikwerken betheiligt sind, nähere Mitheilung zu geben, so hatte dies hauptsächlich seinen Grund darin, daß von unsern Sängern und Sängerinnen die meisten auf der niedrigsten Stufe künstlerischer Ausbildung standen, und nicht einmal Neigung zeigten, sich einen bessern Ruf zu verschaffen. Diejenigen, welche in unserer Stadt auf einen höheren künstlerischen Standpunkt in der Musik sich emporgeschwungen haben, trauerten mit uns über den Verfall der Oper, die jetzt fast gar nicht mehr für uns vorhanden ist. Diesen Aufschlüsse zu geben, war unnöthig, sie sahen mit uns alle Mängel und Fehler. Für den großen Haufen aber, der seine geistige Nahrung aus den Tagesblättern zieht und selbst diese nicht einmal richtig versteht, ist eine musikalische Zeitschrift weder zugänglich noch verständlich.

Wenn wir jetzt, nach der Aufführung von Lortzing’s „Waffenschmied“, uns entschließen, eine etwas ausführlichere Beurtheilung zu geben, so geschieht dies theils, weil uns durch dieses neue Werk eine besondere Veranlassung gegeben ist, theils um den Lobhudeleien entgegenzutreten, mit welchen die Tagesblätter (wir meinen besonders die allgemeine deutsche Zeitung und den General-Anzeiger von Hoßfeld) Lortzing’s Leistungen übergossen haben. In dem unglücklichen Zustande, in welchen unser Theater jetzt zu versinken droht, paßt die hier zur Zeit übliche Art zu kritisiren und recensiren ganz trefflich. Heinrich Laube, der zwar gelinde, aber doch wahre Beurtheilungen in unser Tageblatt lieferte und von allen hiesigen Literaten unbestritten den meisten Beruf dazu in sich hatte, wurde durch Schritte der Direction veranlaßt, seine kritische Thätigkeit einzustellen. Er hatte die Wahrheit gesprochen, welchen andern Lohn durfte er erwarten? Recensenten über die Oper hatten wir in kurzer Zeit nach einander drei. Der erste verstand gar Nichts von Musik, der zweite stand auf gleicher Höhe musikalischer Bildung, und der dritte, ein sonst tüchtiger Künstler, fürchtete sich, offenherzig zu sein. In der allgemeinen Zeitung schrieb ein und derselbe Schriftsteller die Recensionen so über Schauspiel als Oper, der, obwohl übrigens nicht ohne Geist und Urtheil, doch zu wenig in das Innere der Musik eingedrungen ist, um immer das Richtige zu treffen und die Spreu von dem Waizen zu unterscheiden. Von demselben rührt auch die oben berührte Recension in der allgemeinen Zeitung über den Waffenschmied her. Es ist nicht unsere Absicht, eine feindselige Polemik gegen diese Recensenten zu eröffnen, wir möchten aber nicht ganz unterlassen, bei gegebener Veranlassung einmal die Wahrheit offen auszusprechen.

Lortzing hat sich seit einigen Jahren einen guten Namen in den deutschen Landen erworben. Er war der erste, welcher nach langen unfruchtbaren Zeiten in seinem Czaar und Zimmermann eine komische Oper lieferte, die allgemeinen Beifall erhielt und die Runde durch alle Länder machte. Schon vorher hatte er durch eine Operette: die beiden Schützen, das Publicum auf sich aufmerksam gemacht. Im Czaar und Zimmermann waren Fortschritte nicht zu verkennen, deshalb erregte er die besten Hoffnungen und man erwartete Bedeutendes von ihm. Nach der eben erwähnten Oper schrieb er in kurzen Zwischenräumen nach einander: Hans Sachs, Caramo oder das Fischerstechen, und Casanova, welche sämmtlich der Vergessenheit anheim gefallen sind. Der Grund davon ist nicht in der Schwäche der Musik zu suchen; die musikalische Leistung L.’s war hier nicht schlechter als in den ersten Opern, und überhaupt war es ja nie die Musik, welche uns in seinen Opern zu fesseln vermochte. Sie verschwanden von der Bühne, weil die Textbücher das Publicum für längere Zeit nicht anzuziehen vermochten, weil dieselben nicht neu erfunden waren, sondern nur Bearbeitungen von Lustspielen, die man früher häufig genug gesehen hatte.

„Der Wildschütz“, der jetzt folgte, machte verdienterweise größeres Glück, aber wieder nicht durch seine Musik, sondern durch sein treffliches Buch, was freilich nicht Lortzing’s Product war. L. hatte nur das in früheren Zeiten so beliebte Lustspiel Kotzebue’s „der Rehbock“ bearbeitet, und die treffliche Komik und liebenswürdige Charakterzeichnung, die sich in dem ganzen Buche kund giebt, wessen Eigenthum ist sie also? – Jetzt folgt „Undine“, das von den unberufenen Leipziger Kritikern so sehr gelobte und gepriesene Werk. Unser Publicum hat in musikalischen Dingen den Ruf eines richtigen und gebildeten Urtheils. Und doch war es möglich, höre ich fragen, daß die Undine, dieses Quodlibet, zusammengetragen aus allen Zeiten und den Partituren der verschiedensten Meister, dem die kleinste Selbstständigkeit zuzuschreiben Sünde wäre, – doch war es möglich, daß sich hier so viele Stimmen des Lobes dafür erhoben? Wie konnte diese üble Verunstaltung des poetischen Mährchens von Fouqué nur einen Augenblick Gefallen erzeugen? Mußten nicht die eingeschobenen, dem Sujet ganz fremden Hanswurstiaden [/66] des Kellermeisters und des Knappen Unwillen erregen? Die Undine ist ein Mißgriff vom Anfang bis zu Ende; L. hat hier ein Feld bebaut, auf dem er nur die schlechtesten Früchte gewinnen konnte.

[69] Schon das Textbuch des Waffenschmieds allein vermag den ruhigen und gebildeten Beobachter von der Unzulänglichkeit der Fähigkeiten L.s zu überzeugen. Welche scenische Anordnung und welche Sprache in den Versen. Warum schweigen unsere so hochgebildeten (!) Journalisten über diese Stümpereien, sie, die doch sonst im Stande sind, die Leistungen der besten Köpfe, wenn sie nicht gerade ihre Freunde sind, in den Schmutz zu treten? Warum erhebt sich aus ihrer Mitte keine Stimme des Tadels gegen das so verfehlte und niedrig gehaltene Buch des Waffenschmieds? Die Kunst soll uns eine edlere und höhere Anschauung vom Leben gewähren. Gemeinheit und Zweideutigkeit sind nichts weniger als Komik. Der Berichterstatter des Hoßfeld’schen General-Anzeigers, ein Hr. W. Bernhardi, beginnt seine übermäßig lobende Recension mit den Worten: „Eine neue Oper L’s ist ein Ereigniß, denn wir sind so wenig mit dramatischer Musik gesegnet, daß jede neue Erscheinung die Erwartung spannt!“ Nun wohl! L’s Oper sei denn ein Ereigniß! Doch ist sie kein gutes und, Gott sei Dank! nur ein vorübergehendes, denn sollte dieses Ereigniß als Maßstab dienen, wohin würden wir gerathen! Eine solche Progression in solchen Fortschritten, wie sie L.’s Productionen zeigen, führt noch unter den Standpunkt des krassesten Dilettantismus. Was die fernere Klage des Hrn. Bernhardi betrifft, so ist sie schon alt und abgenutzt! Lessing in seiner Dramaturgie hält es nicht für möglich, daß wir noch Gutes im dramatischen Fache zu erwarten haben. Nach ihm aber lebten Göthe und Schiller! Wir dürfen nicht in jedem neuen Jahre Massen von Kunstwerken verlangen; denn gute Werke hat auch die frühere mit Unrecht allein gepriesene Zeit nur sparsam hervorgebracht. Zählen wir die von uns so genannten classischen Opern zusammen, welche wir seit Mozart besitzen, wir werden auf zwei Jahr kaum eine zählen können. Hr. B. sagt ferner, die ganze Oper sei voll reizender Melodien! Es kommt freilich darauf an, was man für Ansprüche an Melodie überhaupt macht! Es giebt Leute genug, die sich an den [sic!] trivialsten Gesellschaftsliede mehr erfreuen, als an der besten Mozart’schen Arie oder dem seelenvollsten Liede von Fr. Schubert. Vom künstlerischen Standpunkte sind L.’s Melodien, am meisten die der Undine und des Waffenschmieds, nur trivial zu nennen. L. arbeitet viel zu schnell; er benutzt jeden Gedanken, der sich ihm darbietet, ohne zu prüfen, ob er bezeichnend ist; ja, er gebraucht, ohne darüber mit seinem Gewissen in Conflict zu gerathen, Constructionen älterer Meister, wenn er sie gerade für die vorliegenden Verhältnisse passend findet. Einem so gewandten Manne, der so lange Sänger war und die meisten der gangbaren Opern seit vielen Jahren in sich aufgenommen hat, kann dieses Verfahren nicht schwer werden, es ist das am meisten empfehlenswerthe für einen Kopf, der musikalisch productiv nicht zu nennen ist. Wo sind die Melodien L.’s, die einen bleibenden Werth für alle Zeiten haben? Etwas das falsch declamirte Czaarenlied? oder: „Heil sei den [sic!] Tag“? oder welche Melodie sonst aus Casanova, Hans Sachs, Wildschütz, Undine?

Lortzing scheint keine höhere Tendenz zu verfolgen, als die Menge zu amusiren; er liebt es, das größere Publicum, dem der ernste Kunstgenuß fremd ist, mit leicht verständlichen Producten zu ergötzen, die ihm augenblicklichen Beifall erwirken. Wir selbst besitzen Humor genug, um uns an anspruchlosen Gaben zu erfreuen, und nehmen sie gern auf, wie sie es verdienen: wir erinnern uns ihrer gern, des Vergnügens halber, was sie uns bereiteten, und empfehlen sie auch, aber nur weil wir das Vergnügen, was wir durch sie empfanden, auch andern gönnen mögen. Es ist unser [/70] Wunsch, daß L. selbst die übertriebenen Lobsprüche seiner literarischen Freunde in seinem Innern als nicht verdient betrachten möge. Wir halten ihn für zu bescheiden, als daß er sich durch das Urtheil Unerfahrener oder der großen Menge zur Selbstüberschätzung verleiten lasse. – Es bleibt uns nach diesen allgemeinen Bemerkungen wenig über die Besonderheiten der Musik des Waffenschmieds zu sagen übrig. Sie leidet fast mehr als die früheren Opern L.’s an den gerügten Mängeln. Unter unsern deutschen Kunstgenossen werden sich nur wenige finden, welche so schlechte Verse in Musik zu setzen wagten. L. hat darin das Größte geleistet! Redensarten, die der gebildete Mann sogar im gewöhnlichen Leben zu vermeiden pflegt, begegnen uns hier auf die pomphafteste Weise in Musik gebracht! L. hat so viele französische Opern kennen gelernt: ist ihm nie die Zierlichkeit und Eleganz aufgefallen, womit unsere Nachbarn auch die unbedeutendsten Dinge zu behandeln verstehen? Gottsched schaffte vor hundert Jahren den Hanswurst ab; L. hat in der Figur des Ritter Adelhof ihn von Neuem auf die Bühne gebracht!

Es ist nicht unsere Aufgabe, über das Sujet Genaueres hier mitzutheilen, die Bemerkung aber können wir nicht zurückhalten, daß die Intrigue ganz unfertig und die Charakterzeichnung, mit Ausnahme des einzigen Knappen Georg, eine durchgängig wohlthuende und befriedigende Erscheinung, mangelhaft und grob ist. L. ist seines Stoffes nicht Herr geworden. Hätte er es doch gewagt, sich getreuer an das alte Lustspiel von Ziegler zu halten, aus dem das Buch des Waffenschmieds entlehnt ist, er würde dann Besseres geleistet haben.

Die Ouverture ist in dem Bericht des General-Anzeigers „charmant“ genannt. Wie muß die Ouverture beschaffen sein, welche das Prädicat charmant in Anspruch nehmen darf? Wir haben durch dieses Beiwort eine Bereicherung der musikalischern Bezeichnungen erlangt. Die Ouverture ist ein heiteres, lebendige Tonstück, ohne charakteristische Motive, in der gewöhnlichen Form gearbeitet, nach unserer Ansicht nur dazu vorhanden, um das Publicum zur Aufmerksamkeit zu nöthigen. Der ihr folgende Beifall war kein Zeugniß ihres Kunstwerthes. Die Introduction beginnt mit einem Chor der Gesellen in des Waffenschmiedes Werkstatt, der durch Ambosschläge begleitet wird. Wir hatten schon früher davon sprechen hören, und glaubten eine anmuthige Spielerei mit gestimmten Ambossen zu hören, die wir an diesem Platze nicht tadeln würden. Dafür aber wurden unsere Ohren durch einen unmusikalischen Lärm, der durch tactmäßige Hammerschläge auf Eisenstangen hervorgebracht wurde, auf die erbarmungswürdigste Weise zerrissen. Wir finden das Rollen der Eisenwagen auf den Straßen gleich erträglich. Musikalisch am bedeutendsten halten wir ein Quintett und ein Sextett, die wenigstens ein gute Zeugniß von der Geschicklichkeit des Componisten ablegen. Auch das Finale des zweiten Actes bietet vorzüglich in den Chören einige interessante Momente, die von der besten Wirkung waren. Wir wünschten gleiches Lob über die Einzelgesänge aussprechen zu dürfen, doch fanden wir in ihnen nichts Neues. Manche unter ihnen sind sogar für die Oper unpassend, höchstens für eine Wiener Posse zuträglich, sowohl des Textes als der Musik wegen. Wir nennen hier als Beispiele die Arie der Marie: Ach wär’ ich doch kein Mädchen, und das Reiselied mit seinem so gemeinen Chorschlusse, der sich besonders durch unverständige Textwiederholungen auszeichnet, welche nur durch die Verlängerung der musikalischen Periode hervorgerufen werden. Auch der Hochzeitsmarsch im letzten Finale zeichnet sich weder durch brillante Melodien, noch durch glanzvolle Instrumentation aus, welche letztere wir wenigstens erwartet hatten.

Ueber die Ausführung können wir uns befriedigender aussprechen: Frau [Caroline] Günther-Bachmann spielte und sang die Rolle der Marie gewandt, wenn auch nicht edel. Auch ermangelt ihre sonst anmuthige Gestalt des Jugendreizes, um eine wohlthuende Wirkung hervorzubringen. Der Graf, Herr [Ernst] Pasqué, war lobenswerth, und berechtigt überhaupt als Sänger zu den besten Erwartungen; Hr. [Gotthelf Leberecht] Berthold dagegen, der Waffenschmied, kann gar nicht mehr singen. Volles Lob spenden wir Hrn. Henry; er benutzte seine Stimmmittel auf die beste Weise, und spielte so gewandt und sicher, daß er des Beifalls, den ihm das Publicum spendete, vollkommen würdig zu erachten ist. Auch Frau Eicke zeigte sich wie gewöhnlich recht brav. Wir bedauern sie, daß ihr die Darstellung dieser so widerlichen Caricatur, denn anders mögen wir diese alte Jungfern-Rolle nicht nennen, zu Theil geworden war.


Zwei Opernvorstellungen in Potsdam, in: NZfM 25 (1846/2), Nr. 34, 24. Oktober 1846, S. 137-138; 140-141

Es ist immer eine erfreuliche Erscheinung, wenn die Kunst an Orten ihre Tempel aufschlägt, zu denen sie früher nicht gelangen konnte. Wenn die Leistungen auch anfangs noch schwach sind, so werden diese sich einestheils während des Fortbestehens der Anstalt vervollkommnen lassen, anderntheils nothwendig dazu beitragen, im Publicum ein regeres Streben, ein helleres Verständniß in Beziehung auf Kunst im Allgemeinen hervorzurufen. Demzufolge können wir den Einwohnern Potsdams nur Glück wünschen zu dem Unternehmen des Hrn. Director Huth, der seit Kurzem ein selbstständiges Theater eingerichtet hat, welches am 27sten Sept. mit der Aufführung der Oper „Czaar und Zimmermann“ von Lortzing eröffnet wurde.

Einer Kritik des Hrn. Dr. …s über die erste Darstellung dieser Oper zufolge (Vossische Zeitung Nr. 227), die uns fast glauben machen zu wollen schien, jene Bühne übertreffe unsere königliche Oper, beschlossen wir, der nächsten Aufführung selbst beizuwohnen, um im Stande zu sein, ein eigenes Urtheil darüber fällen zu können. Das Repertoir war für uns so günstig ge- [/138] stellt, daß wir an zwei aufeinander folgenden Abenden: Bellini’s Romeo und die Wiederholung des „Czaar“ hören konnten. Wenn es nicht zu leugnen ist, daß die Direction dieses neu errichteten Theaters einzelne Mitglieder gewonnen hat, die für ein Privattheater als eine wahre Zierde betrachtet werden können, so beweist dennoch die oben erwähnte Kritik eine nicht zu entschuldigende Ueberschätzung der einzelnen, wie der Gesammtkräfte, so daß uns vergönnt sein möge, unsere ganz unparteiische Meinung in einigen klaren, bestimmten Worten aussprechen zu dürfen. – […]

[S. 140:] Das Ensemble der Aufführung des „Czaar“ unter Leitung des M.D. [Gustav] Kellner war um Vieles besser als des Romeo; sowohl Chor als Orchester hatten viel [/141] mehr Sicherheit und griffen entschiedener in einander. Man könnte deshalb geneigt sein, die Schuld der minder guten Aufführung des Romeo auf den Dirigenten, M.D. [Heinrich] Hauser, zu schieben, doch würde uns dies als sehr ungerecht erscheinen. Wir haben das Verfahren des Letzteren während der ganzen Aufführung genau beobachtet, und müssen ihm das Zeugniß geben, daß er mit großer Umsicht und Aufmerksamkeit dirigirte. Wenn dennoch oben besprochene Aufführung dem „Czaar“ um vieles nachstand, so liegt die Ursache wohl darin, daß eine leichte Spieloper sich mehr zur Darstellung auf einer kleinen Bühne eignet, als eine Opera seria; und namentlich eine italienische Oper, wegen der großen Recitative und vielerlei Freiheiten, die den Sängern dabei gestattet werden müssen, einem wenig geübten Orchester bei weitem mehr Schwierigkeiten darbietet. – Der Czaar wurde von Hrn. v. Milde gegeben. Wir lernten in ihm einen jungen Sänger kennen, der seine weiche, angenehme Stimme (wie es scheint durch guten Unterricht und vieles Hören bedeutender Sänger) auf das Vortheilhafteste ausgebildet hat. Hr. v. M. und Frl. Kerstan sind die beiden einzigen Mitglieder des Potsdamer Personals, die einen gerechten Anspruch auf den Namen Sänger zu machen haben. Nur schade, daß auch hier das Material zu schwach ist, um Hoffnung zu geben, daß Hr. v. M. einst zu wirklicher Bedeutsamkeit gelangen werde. Im Spiele vermißten wir noch die nöthige Freiheit, die sich aber bei den guten Anlagen des Künstlers bald einstellen wird. Hr. Meinhold (Iwanow) zeigte sich als ein recht gewandter Schauspieler. Er gab seine Rolle mit ächtem Humor, ja sogar mit einiger Vollendung. Als Sänger kann er jedoch nicht in Betracht kommen, da er weder Stimme noch Schule hat. Hr. Hesse (van Bett) war wirklich vortrefflich. Für einen Baßbuffo ist die Stimme schon ausreichend; seine Komik war sehr ergötzlich und hielt sich fern von unschöner Uebertreibung. Fräul. Schulz (Marie) war ebenfalls ganz allerliebst, spielte mit vieler Naivität, und würde als vortreffliche Soubrette zu erwähnen sein, wenn ihre Stimme mehr Ton besäße, und sie überhaupt noch besser ausgebildet wäre. Da Frl. S. übrigens recht musikalisch zu sein scheint, so würde es ihr nicht schwer fallen, mehr Sorgfalt auf die Ausbildung einzelner Töne zu verwenden, die höchst ungleich, und namentlich in dem Uebergange vom mittleren zum höheren Register oft schwach klingen. […]

NZfM 30 – 1849/1